Weil es überall ja derzeit nur um Fußball geht, schreibe ich gegen den Trend einmal eine Filmrezension. Derzeit laufen nämlich die Filmfestspiele in München, und da war ich heute bei der Deutschlandpremiere von Istanbul United, einem Film von Farid Eslam und Olli Waldhauer
Ein Dokumentarfilm über Kameradschaft in schwierigen politischen Zeiten, über Hass zwischen rivalisierenden Gruppen, über den türkischen Frühling, Taksim und die Protestbewegung. Und über Ultras. Ein beeindruckender Film.
Die erste halbe Stunde des Films zeigt fast nur Bilder aus den Kurven der 3 großen türkischen Vereine Besiktas, Galatasaray und Fenerbahce, das Zusammenhaltsgefühl, die gemeinsamen Emotionen, Corteos, Fangesänge. Man sieht nie etwas vom Spiel, die Kamera ist immer mitten in der Kurve zwischen den Ultras. Führende Mitglieder der jeweiligen Ultragruppierungen werden vorgestellt und berichten über ihren „Werdegang“ vom Kind, das mit dem Vater zum Fußball ging hin zum fanatischen Fan.
Die zweite halbe Stunde zeigt den ungebremsten Hass zwischen den Anhängern der Vereine. Krasse Aussagen und Zitate. Ein türkischer Sportjournalist berichtet über eine Messerstecherei zwischen Ultras, bei der ein 17-Jähriger ums Leben kam. Üble Jagdszenen auf den Straßen werden gezeigt.
Und dann der eigentliche Aufhänger des Films – die Proteste auf dem Taksim Platz und im Gezi Park. Das menschenverachtende, faschistoide Vorgehen der Polizei und des (immer noch regierenden) Türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Die Filmemacher waren live dabei und haben in den Tränengaswolken gefilmt.
Und dann ein kleines Wunder: Die drei verfeindeten Fangruppen marschieren gemeinsam auf dem Taksim ein und unterstützen die Protestierenden. Schulter an Schulter. Tränengas- und Polizeiprügelerfahren. Ein typischer Fangesang aller drei Vereine wird immer wieder skandiert: „Nehmt Eure Helme ab, werft eure Schlagstöcke weg, und dann sehen wir, wer gewinnt!“. Ein bisschen wie bei John Wayne, wenn die Kavallerie einreitet. Echte Gänsehautmomente. Gegen die Feindschaft der Vereine in Istanbul sind Schalke und BVB ein Liebespaar – und dann singen die gemeinsam.
Nun, das Ende der Geschichte ist ja bekannt. Herr Erdogan hat seine Truppen forciert und die Demokratie vom Taksim vertrieben – aber in der Türkei hat sich etwas verändert. In den Stadien wird von allen Anhängern immer wieder „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!“ skandiert.
Der Film endet mit dem ersten Derby zwischen Besiktas und Galatasaray nach dem Protest, ein Derby, das im Chaos endete. Besiktas lag mit 1:2 im Rückstand, es war die dritte Minute der Nachspielzeit, als der Galatasaray-Spieler Felipe Melo ein Foul beging und die Rote Karte sah. Während das Publikum Slogans der Gezi-Protestbewegung brüllte, stürmten Hunderte mit Plastikstühlen und Fahnenstangen das Spielfeld. Spieler und Schiedsrichter flüchteten in die Kabinen. Polizei zog auf und schoss (wieder einmal) mit Tränengas. Die Besiktas-Ultras („Carsi“) sind die einzigen der drei Fangruppierungen, die sich offiziell zum Gezi-Protest bekannten und werden von Erdogan seitdem als Terroristen verfolgt. Der im Film gezeigte Capo wurde mit als erster verhaftet.
Farid Eslam und Olli Waldhauer haben hinterher noch ausgesprochen interessant aus dem Nähkästchen geplaudert. Darüber, dass man schlechterdings nicht mit Gasmasken in Istanbul einreisen konnte und deswegen mit Taucherbrillen und Lackierermasken gefilmt hat. Die Brillen halfen, die Masken nicht. Man hört im Film öfters mal Eslam hinter der Kamera kotzen. Man gewöhne sich aber mit der Zeit an das Tränengas, sagte er. Regisseur Eslam musste selbst filmen, weil der istanbuler Kameramann am ersten Tag bereits verhaftet wurde und dann vier Tage hinter Gittern saß. Auf die Frage aus dem Publikum, ob die Polizei denn nicht versucht hätte, zu verhindern, dass die Gewaltszenen gefilmt werden meinte Waldhauser trocken: Doch, wir sind eben sehr viel gerannt in den Tagen vor Ort.
In der Q&A-Runde berichteten die beiden Filmemacher auch über ihre jeweilige Motivation, den Film zu machen. Eslam (deutschstämmiger Türke, der allerdings nie in der Türkei lebte) ging es darum, die Protestbewegung aus einer ungewöhnlichen Perspektive zu zeigen. Waldhauer ist hardcore Fußballfan (eines Kölner Vereins) und ihm ging es darum, die Geschichte aus Sicht der Ultras zu zeigen (als die Moderatorin der Fragerunde dann berichtete, dass er FC-Fan ist, erklärte sich mir auch der FC-Wimpel, der am Arbeitsplatz des Galatasaray-Capos hing 😉 ).
Last not least: Das Publikum passte zum Film. München United. Die Cosa Nostra saß friedlich hinter der Schickeria.
Wer sich für gute Dokus (nagutttäh – und vielleicht ein kleines bisschen für Fußballszene) interessiert, sollte da hingehen. Der läuft im Herbst hier an!